Ist Ihre Wohnung auch immer so gründlich geputzt, wenn Sie eigentlich die Steuererklärung abgeben sollten? Dass wir lieber etwas erledigen, das uns ein schnelles Erfolgserlebnis beschert, statt unangenehme Aufgaben anzupacken – ist menschlich. Wann Prokrastination zum Problem wird und wie der Ausweg aus der Aufschieberitis gelingt, erfahren Sie hier.

Herr Prof. Kornhuber, Hand aufs Herz: Vor welcher Aufgabe haben Sie sich schon einmal gedrückt?

[lacht] Auf meinem Schreibtisch sammeln sich immer wieder einmal kleinere Stapel mit Schriftstücken, die ich unnötig „reifen“ lasse.

Ob Steuererklärung, Abschlussarbeit oder die Entrümpelung des Kellers: Warum verschieben wir solche To-dos immer und immer wieder?

Meist handelt es sich um große Aufgaben, die unscharf umrissen und für uns negativ behaftet sind. Zudem ist der Erfolg nicht garantiert und wir fürchten, zu scheitern. Aus Angst entscheiden wir uns deshalb dafür, lieber etwas anderes zu machen.

Sind in dieser Hinsicht alle Menschen gleich?

Grundsätzlich ja, aber ausgeprägte und belastende Prokrastination wird tatsächlich nur bei etwa 15 Prozent der Bevölkerung beobachtet. Geschlecht, Alter und Herkunft spielen keine besondere Rolle. Es gibt Hinweise, dass junge Männer häufiger betroffen sind, das könnte an der späteren Hirnreifung bei Männern liegen. Menschen, die prokrastinieren, sind übrigens nicht faul. Denn im Gegensatz zur Faulheit ist Prokrastination aktiv. Man tut ja etwas – nur eben nicht das, was wirklich angebracht wäre.

Und obwohl wir es eigentlich besser wissen, prokrastinieren wir trotzdem. Was steckt dahinter?

Wir wollen unsere Gefühle regulieren, uns emotional stabilisieren. Die anstehende Aufgabe ist uns unangenehm; allein der Gedanke daran löst negative Empfindungen bei uns aus. Dem wirken wir entgegen, indem wir etwas tun, bei oder nach dem wir uns gut fühlen. Das ist evolutionär bedingt: Die Gegenwart erscheint uns (über-)lebenswichtiger als die Zukunft. Wir wollen uns jetzt wohlfühlen und nicht erst in ein paar Tagen oder Wochen.

Wir saugen die Wohnung.

Das ist ein gutes Beispiel für ein passives Prokrastinationswerkzeug, also eines, für das Sie sich entscheiden. Immerhin freuen Sie sich dann über die sauberen Räume und haben ein Erfolgserlebnis. Bedenklicher finde ich die aktiven Prokrastinationswerkzeuge, die wir alle auf unseren Smartphones ständig mit uns herumtragen. Aktiv, weil Social Media quasi für uns entscheidet. Die Apps sind so konzipiert, dass wir möglichst lange vor dem Bildschirm bleiben. Nach einem Video ist nicht Schluss, sondern es folgt direkt das nächste – ohne dass wir das durch einen Klick selbst entschieden haben. Es gibt kein Ende.

Wenn ich Prokrastination an mir oder anderen beobachte, muss ich mir dann Sorgen machen?

Zunächst: Es handelt sich nicht um eine psychische Störung entsprechend unserer aktuellen Diagnosesysteme. Wir sprechen auch erst von Prokrastination, wenn das Verhalten tatsächlich in allen Lebensbereichen auftritt, wenn es also bei der Person tief verwurzelt ist. Entscheidend ist auch nicht, was andere darüber denken, sondern wie es den Betroffenen damit geht. Nur wenn sie selbst es als Belastung empfinden und darunter leiden, besteht Handlungsbedarf. Meist gelingt es ihnen selbstständig oder mit Unterstützung aus ihrem Umfeld, sich entsprechende Strukturen zu schaffen. Menschen, die ihre Situation als aussichtslos empfinden, können sich zum Beispiel an eine Therapeutin oder einen Therapeuten wenden, die bzw. der sich mit Prokrastination gut auskennt und bei der Bewältigung der Angst helfen kann.

Problem erkannt: Wie gehe ich es an?

Ich empfehle folgende drei Schritte: 1. Bereiten Sie sich auf die Aufgabe vor und priorisieren Sie. 2. Konzentrieren Sie sich bei der Erledigung ganz auf die Aufgabe; schirmen Sie sich komplett von Ablenkung ab. Das Smartphone befindet sich im Idealfall nicht im selben Raum. Und das E-Mail-Programm schließen Sie am besten auch, sonst werden Sie ständig aus Ihren Gedankengängen herausgerissen. 3. Klopfen Sie sich auf die Schulter, wenn Sie fertig sind, zollen Sie sich selbst die gebührende Anerkennung. Belohnen Sie sich vielleicht sogar mit etwas.

Haben Sie noch mehr praktische Tipps?

Zerkleinern Sie die unangenehme Aufgabe in Häppchen, die lächerlich klein sind. Nehmen Sie sich bei der Steuererklärung beispielsweise vor, täglich eine Zahl einzutragen. Das schaffen Sie locker. So kommen Sie jeden Tag einen Schritt weiter – und wer sich erst einmal drangesetzt und hineingedacht hat, schafft typischerweise sogar deutlich mehr. Schwören Sie außerdem dem Perfektionismus ab. Schreiben Sie sich die To-dos auf – am besten handschriftlich – und priorisieren Sie. Ich verweise gerne auf die Ivy-Lee-Methode. Sprechen Sie Ihre To-dos zusätzlich laut aus: Hören hat auf uns Menschen noch einmal eine andere Wirkung als Denken. Setzen Sie sich eine Deadline und vorher Reminder. Arbeiten Sie nachhaltig: Führen Sie zum Beispiel eine Liste für die Einfälle, die Sie zu einem späteren Zeitpunkt weiterverfolgen möchten. Wählen Sie eine Arbeitsumgebung, die vorteilhaft ist: Zum Lernen gehen viele bewusst in die Bibliothek. Und, es klingt banal, aber schlafen Sie ausreichend. Das macht Sie resistenter gegen äußere Einflüsse und Sie ruhen mehr in sich selbst.

Viele Menschen legen ja extra Nachtschichten ein, um eine Aufgabe doch noch pünktlich zu erledigen.

Kurz vor der Deadline und als Ausnahme mag das ja funktionieren – dauerhaft ist es allerdings schädlich. Wir sprechen von „bed time procrastination“, wenn das Schlafen ständig verschoben wird. Die nächtliche Ruhepause ist sehr wichtig. Wer zu wenig schläft, ist tagsüber müde und prokrastiniert deswegen noch mehr. Es ist ein Teufelskreis. Deswegen mein Rat: Sparen Sie möglichst nie an Ihrem Schlaf.

Das alles klingt nach viel Eigenverantwortung.

Das ist es zum einen auch. In meinen Augen ist es zum anderen allerdings eine wichtige Führungsaufgabe. Gute Vorgesetzte schaffen Strukturen, die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen. Dazu zählen unter anderem ein positives Betriebsklima und angstfreies Arbeiten. Sein Team zu einem Zeitmanagementseminar zu schicken, ist eher kontraproduktiv, das erhöht den Druck unter Umständen sogar. Empfehlenswerter ist es beispielsweise, bewusst Deadlines zu setzen, ohne diese allerdings streng zu ahnden.

Aber setzt eine Deadline nicht massiv unter Druck?

Eine Deadline ist eine Verbindlichkeit und ein Ziel, auf das ich hinarbeiten kann. Das motiviert mich. Ein Beispiel: Es werden nachweislich mehr Forschungsanträge abgegeben, wenn es dafür eine Deadline gibt; kann man den Antrag jederzeit einreichen, gibt es nicht so viele Bewerbungen.

Hat Prokrastination auch eine positive Seite?

Definitiv. Ich empfehle Ihnen sogar, eine Aufgabe – sofern Sie nicht eilig ist – nicht sofort zu erledigen, sondern ruhen und reifen zu lassen. Ihr Gehirn arbeitet nämlich unterbewusst schon daran. Indem Sie „eine Nacht darüber schlafen“, wie man so schön sagt, stabilisieren Sie sich emotional und es können kreative Lösungsansätze entstehen. Kreativität benötigt nämlich Zeit.

Interview: Barbara Mestel/Uniklinikum Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Herbst 2023